Vitruv
De architectura
Buch 1, Kap. 1 bis 3

Vitruv, Zehn Bücher über Architektur.

Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1976, S. 21 - 45. Die Übersetzung Fensterbusch wurde an verschiedenen Stellen modifiziert. D. Hg.

I. Die Ausbildung des Baumeisters

1. Das Wissen des Architekten umfaßt in vielerlei Hinsicht wissenschaftliche und mannigfaltige elementare Kenntnisse. Seiner Prüfung und Beurteilung unterliegen alle Werke, die von den übrigen Künsten geschaffen werden. Dieses Wissen erwächst aus fabrica (Handwerk) und ratiocinatio (geistiger Arbeit). Fabrica ist die fortgesetzte und immer wieder berufsmäßig überlegt geübte Ausübung einer praktischen Tätigkeit, die zum Ziel eine Formgebung hat, die mit den Händen aus dem Werkstoff, aus welchem das Werk jeweils besteht, durchgeführt wird. Ratiocinatio ist, was bei handwerklich hergestellten Dingen aufzeigen und deutlich machen kann, in welchem Verhältnis ihnen handwerkliche Geschicklichkeit und planvolle Berechnung innewohnt.

2. Daher konnten Architekten, die unter Verzicht auf wissenschaftliche Bildung bestrebt waren, nur mit den Händen geübt zu sein, nicht erreichen, daß sie über eine ihren Bemühungen entsprechende Meisterschaft verfügten. Die aber, die sich nur auf die Kenntnis der Berechnung symmetrischer Verhältnisse und wissenschaftliche Ausbildung verließen, scheinen lediglich einem Schatten, nicht der Sache nachgejagt zu sein. Die aber, die sich beides gründlich angeeignet haben, waren, da mit dem ganzen Rüstzeug ihres Berufes ausgestattet, schneller bei der Erreichung ihres Ziels.

3. Wie nämlich auf allen Gebieten, so gibt es ganz besonders auch in der Baukunst folgende zwei Dinge: Planungsziel und Planungsgrundlagen. Planungsziel ist der beabsichtigte Gegenstand, von dem man spricht. Diesen aber zielt an die mit wissenschaftlichen Methoden entwickelte Darstellung. Deshalb muß der, der sich als Architekt ausweisen will, in beidem geübt sein. Daher muß er begabt und fähig und bereit zu wissenschaftlich-theoretischer Schulung sein. Denn weder kann Begabung ohne Schulung noch Schulung ohne Begabung einen vollendeten Meister hervorbringen. Und er muß im schriftlichen Ausdruck gewandt, des Zeichenstiftes kundig, in der Geometrie ausgebildet sein, mancherlei geschichtliche Ereignisse kennen, fleißig Philosophen gehört haben, etwas von Musik verstehen, nicht unbewandert in der Heilkunde sein, juristische Entscheidungen kennen, Wissen über die Sterne und vom gesetzmäßigen Ablauf der Himmelserscheinungen besitzen. 

4. Die Gründe hierfür sind folgende. Schreibgewandt muß der Architekt sein, damit dauerhafte schriftliche Erläuterungen zu seinem Werk geben und begründen kann. Zweitens muß er den Zeichenstift zu führen wissen, daß er durch perspektivische Zeichnungen das beabsichtigte Aussehn seines Werkes darstellen kann. Die Geometrie aber bietet der Architektur mehrere Hilfen: und zwar vermittelt sie zuerst nach dem Gebrauch des Lineals den Gebrauch des Zirkels, wodurch sie ganz besonders das Aufzeichnen von Gebäuden auf dem Zeichenbrett und das Ausrichten rechter Winkel, waagerechter Flächen und gerader Linien erleichtert. Ferner wird, wenn man die Optik beherrscht, von bestimmten Stellen des Himmels das Licht richtig in die Gebäude geleitet. Mit den Mitteln der Arithmetik aber werden die Gesamtkosten der Gebäude errechnet, die Maßeinteilungen entwickelt, und die schwierigen Fragen der symmetrischen Verhältnisse werden auf geometrische Weise und mit geometrischen Methoden gelöst.

5. Mancherlei geschichtliche Ereignisse aber muß der Architekt kennen, weil die Architekten oft an ihren Bauten viel Schmuck anbringen, über dessen Bedeutung sie denen, die danach fragen, warum sie ihn angebracht haben, Rechenschaft ablegen müssen. Wenn zum Beispiel einer mit langen Obergewändern bekleidete weibliche Marmorstatuen, die Karyatiden beißen, an Stelle von Säulen an seinem Bau aufgestellt und darüber Kragsteine und Kranzgesimse gelegt hat, wird er denen, die danach fragen, folgendermaßen dafür Rechenschaft ablegen. Karya, eine peloponnesische Stadt, stand mit ihrer Gesinnung auf Seiten der persischen Feinde gegen Griechenland. Als die Griechen später den Krieg siegreich und ruhmvoll hinter sich gebracht hatten, erklärten sie auf gemeinsamen Beschluß den Karyaten den Krieg. Und so führten sie nach Einnahme der Stadt, nach Ermordung der Männer und völliger Zerstörung der Gemeinde deren Frauen in die Knechtschaft ab, gestatteten ihnen aber nicht, ihre langen Gewänder und Schmuckstücke, wie Frauen sie zu tragen pflegen, abzulegen: sie sollten nämlich nicht in einem einmaligen, sondern in einem immerwährenden Triumphzuge vorgeführt würden, in einem Musterbild der Knechtschaft, jedermann sichtbar mit schwerer Schande belastet zur Buße für ihre Bürgerschaft. Daher schufen die damaligen Architekten Nachbilder von ihnen, die an öffentlichen Gebäuden zum Tragen einer Last aufgestellt waren, damit auch der Nachwelt die Bestrafung des Vergehens der Karyaten bekanntgemacht und in Erinnerung gehalten werde.

6. Ebenso haben die Lakedämonier, als sie unter Führung des Pausanias, des Sohnes des Agesilaos, in der Schlacht bei Platää mit ihrer kleinen Schar die unendliche Masse des Perserheeres überwunden hatten, nach einem glorreichen Triumph, in dem die erbeuteten Waffen und sonstige Beute mitgeführt wurden, aus der Beute als Mahnmal des Ruhms und der Tapferkeit der Bürger die persische Halle als Siegeszeichen für die Nachwelt errichtet. Und sie stellten dort Nachbildungen der Gefangenen - deren Übermut wurde mit verdienter Schmach bestraft - in ausländischer Tracht auf, die das Dach trugen. Denn die Feinde sollten durch die Furcht vor einem solchen Mißerfolg ihrer Tapferkeit abgeschreckt und die Bürger beim Anblick dieses ruhmreichen Wahrzeichens früherer Tapferkeit zu einer künftigenVerteidigung der Freiheit angespornt werden. Und so wurden seitdem vielfach Perserstatuen aufgestellt, die das Gebälk und dessen Schmuck tragen, und den jeweiligen Werken wurde durch den Bezug auf den geschichtlichen Stoff besondere Bedeutung und Aussagekraft verliehen. Es gibt zahlreiche geschichtliche Begebenheiten ähnlicher Art, die die Architekten im Kopfe haben müssen.

7. Die Philosophie aber bringt einen vollendeten Architekten mit hoher Gesinnung hervor und läßt ihn nicht anmaßend, sondern eher umgänglich, billig denkend und zuverlässig, und, was das Wichtigste ist, ohne Habgier sein. Kein Werk kann nämlich in der Tat ohne Zuverlässigkeit und Lauterkeit der Gesinnung geschaffen werden. Er soll nicht begehrlich und nicht dauernd darauf aus sein, Geschenke zu bekommen, sondern er soll mit charakterlichem Ernst dadurch seine Würde wahren, daß er in gutem Ruf steht. Auch das nämlich schreibt die Philosophie vor. Außerdem gibt die Philosophie Aufklärung über das Wesen der Dinge. Griechisch heißt dieser Zweig der Philosophie Physiologie. Auch diese muß er eifrig studiert haben, weil sie viele verschiedene naturwissenschaftliche Fragen behandelt, z. B. auch bei Wasserleitungen. Beim Einlauf ändern sich nämlich sowohl an den Biegungen wie bei sonst ebenem Lauf an den Steigungen die Druckverhältnisse, deren schädliche Wirkungen nur der beseitigen kann, wer aus der Philosophie die Grundgesetze der Natur kennt. Ferner wird der, der die Schriften des Ktesibios, des Archimedes und anderer, die Lhirschriften derselben Art verfaßt haben, liest, sie nur verstehen, wenn er in diesen Dingen von Philosophen unterrichtet ist.

8. Von der Musik muß er etwas verstehen, damit er über die Theorie des Klanges und die mathematischen Verhältnisse der Töne Bescheid weiß und außerdem die Spannung bei Ballisten, Katapulten und Skorpionen richtig herstellen kann. An den Hauptbalken sind nämlich rechts und links Bohrungen in den Rahmen der Spannsehnenbündel, durch die mit Haspeln und Hebeln aus Därmen geflochtene Seile gespannt werden, die erst verkeilt und angebunden werden, wenn sie bestimmte, gleichmäßige Töne an das Ohr des Erbauers dringen lassen. Denn die beiden Bügelarme, die in diese Spannstränge eingeschlossen werden, müssen, wenn sie losgelassen werden, beide gleichmäßig und gleich stark einen Stoß hervorbringen. Wenn sie nicht den gleichen Ton geben, werden sie keine gerade Flugbahn des Geschosses zulassen.

9. Ferner werden in den Theatern eherne Gefäße, die in Nischen unter den Sitzreihen nach mathematischer Berechnung entsprechend der Verschiedenheit der Töne aufgestellt werden - die Griechen nennen sie 'Echeia' [= 'Schallgefäße'] -, nach den musikalischen Akkorden [lat. ‘concentus‘ = 'Zusammenklang'] angeordnet, verteilt im Theaterrund nach Quarten, Quinten, Oktaven bis zur Doppeloktavel, damit die Stimme des Schauspielers, wenn sie als übereinstimmender Klang in den verteilten Gefäßen durch Berührung anstößt, verstärkt unter Anschwellen klarer und angenehmer zu den Ohren der Zuschauer gelangt. Auch Wasserorgeln und diesen ähnliche Instrumente wird niemand ohne Kenntnis der in der Musik waltenden Gesetze bauen können.

10. Die Wissenschaft der Medizin aber muß er kennen wegen der durch die Neigung des Himmels zu den Polen bedingten verschiedenen Witterungsverhältnisse, die die Griechen Klimata nennen. Wenn jemand diese nicht kennt, wird er die Berechnung der Uhren überhaupt nicht vorzunehmen wissen. Er muß sie aber auch kennen wegen nützlicher und schädlicher Eigenschaften der Luft und der Gegenden, welche gesund oder krankheiterregend sind, und des Wassers. Denn wenn man das nicht berücksichtigt, können keine gesunden Wohnungen gebaut werden. Auch die Rechtsvorschriften muß er kennen, die bei Häusern, die Wand an Wand liegen, hinsichtlich der Mauern, am Umgang hinsichtlich der Dachrinnen und wegen der Kloaken und der Anlage der Fenster zu beachten sind. Ebenso müssen den Architekten die Rechtsverhältnisse hinsichtlich der Wasserzuleitung und danderer ähnlicher Dinge bekannt sein, damit sie schon vor Baubeginn des Hauses Vorsorge dagegen treffen, daß nach Fertigstellung des Baues für die Hausbesitzer zu Streitigkeiten kommt. Auch bei der Abfassung der Bauverträge soll er dem Bauherrn und dem Bauunternehmer auf vorausschauende Weise Sicherheit verschaffen können. Denn wenn der Vertrag sachkundig abgefaßt ist, werden beide Parteien ohne Nachteil von ihren gegenseitigen Verpflichtungen entbunden werden. Aus der Sternkunde aber erwächst die Kenntnis, sich nach Ost und West, Süd und Nord orientieren zu können, auch von der Gesetzmäßigkeit der Bewegung des Himmelsgewölbes, der Tag-und Nachtgleichen, der Sonnenwenden und des Laufs der Gestirne.

11. Da nun diese Wissenschaft so umfassend ist, d. h. so vielfältige und verschiedene Arten des Wissens voraussetzt, ja ein Übermaß von ihnen in sich vereinigt, glaube ich, daß niemand sich ohne lange Ausbildung mit wirklichem Recht Architekt nennen kann. Das können vielmehr nur die, die von frühester Jugend an auf der Stufenleiter der Wissenschaften emporgestiegen und in förderliche Berühung mit vielen Wissensgebieten und Künsten gelangt, schließlich die höchste Stufe, die der Architektur, erreichen.

12. Aber vielleicht wird es Leuten mit geringem Wissen wunderbar erscheinen, daß ein Mensch eine so große Menge vielfältigen Wissens aufnehmen und im Gedächtnis festhalten kann. Wenn sie sich aber klar machen, daß alle Wissenszweige untereinander in sachlicher Verbindung stehen, ja daß sie etwas Gemeinsames haben, werden sie auch die Überzeugung gewinnen, daß es doch möglich ist. Das Wissen als enzyklopädische Bildung ist nämlich wie ein einheitlicher Körper aus vielfältigen Gliedern zusammengesetzt. Daher stellen die, die vom zarten Jugendalter an in verschiedenen Wissenschaftszweigen unterrichtet werden, fest, daß die Grundzüge in allen Wissenschaften gleich sind und alle Wissenschaltsgebiete miteinander in Verbindung stehen, und sie erfassen daher alles leichter. Deshalb sagt einer von den alten Architekten, Pytheos, der als Architekt in Priene den Bau des Minervatempels vortrefflich geleitet hat, in seinen Schriften, ein Architekt müsse in allen Zweigen der Kunst und Wissenschaft mehr leisten können als die, die einzelne Gebiete durch ihren Fleiß und ihre Tätigkeit zu höchstem Glanz geführt haben.

13. Das allerdings wird ist so nicht ganz richtig. Ein Architekt muß und kann nicht ein Sprachkundiger sein, wie es Aristarchos gewesen ist, aber er darf nicht ohne grammatische Bildung sein. Er braucht kein ein Musiker zu sein wie Aristoxenos, aber er darf nicht ohne jede musikalischen Kenntnis sein. Er braucht nicht ein Maler zu sein wie Apelles, aber er darf nicht unerfahren sein im Führen des Zeichenstifts. Er braucht nicht ein ein Bildhauer zu sein wie Myron oder Polykleitos, aber er muß sich doch ein wenig in der Bildhauerkunst auskennen. Und schließlich braucht er auch nicht ein Arzt wie Hippokrates zu sein, muß aber dennoch ein wenig von der Heilkunde verstehen. Er braucht also nicht auf den einzelnen Gebieten von Kunst und Wissenschaft eine Kapazität zu sein; er muß vielmehr nicht mehr und nicht weniger haben als gewisse Grundkenntnisenntnisse von ihnen. Denn niemand kann auf unterschiedlichsten Fachgebieten Meister sein, also ihre theoretischen Grundsätze und ihre Praxis gleichermaßen völlig beherrschen.

14. Aber nicht nur den Architekten sind im Hinblick auf die Perfektion der Beherrschung aller für sie wichtigen Fachgebiete Grenzen gesetzt, sondern sogar denen, die die Besonderheiten einzelner Kunstgattungen beherrschen; auch sie bringen es oft nicht fertig, die allerhöchste Spitze des fachlichen Ruhms erlangen. Wenn also auf den einzelnen Gebieten der Kunst in der ganzen Länge der Zeit nur ganz wenige wirkliche Berühmtheit erlangt haben, wie kann da der Architekt, der auf mehreren Gebieten der Kunst Erfahrungen haben muß, das Wunder vollbringen, keinerlei Mängel in ihrer Beherrschung zu haben, sondern sogar die in besonderen Kunstrichtungen und -techniken mit Fleiß und Beharrlichkeit erfahren gewordenen Künstler zu übetreffen?

15. Also hat Pytheos in diesem Punkte sicherlich geirrt, weil er nicht bemerkte, daß die einzelnen Künste sich aus zwei Faktoren zusammensetzen, aus 'Ausführung' und 'Konzeption', wovon das erstere, nämlich die Ausführung der Arbeit, eine eigene Sache derer ist, die auf speziellen Gebieten ausgebildet sind, das zweite aber Gemeingut aller enzyklopädisch Gebildeten: es geht dabei um nicht mehr und nicht weniger als die systematische, theoretische Überlegung der Art, wie sich z. B. Ärzte und Musiker mit dem Zeitmaß des Pulsschlages und der Bewegung der Füße beschäftigen. Wenn es aber nötig wird, eine Wunde zu heilen oder einen Kranken aus der Gefahr zu befreien, dann wird dafür nicht der Musiker herbeigeholt, sondern der dafür kompetent Arzt. Ebenso wird auf einem Musikinstrument nicht der Arzt, sondern der Musiker so spielen; nur so können die Ohren die süße Annehmlichkeit gespielter Weisen empfinden.

16. Ähnlich erörtern Astrologen und Musiker zwar die Wechselbeziehung der harmonischen Stellungen der Sterne und der musikalischen Konsonanzen in Quadraten und Dreiecken bzw. in Quarten und Quinten, gemeinsam mit den Geometern, die insoweit von 'Einteilung', griechisch 'logos optikos', sprechen. Auch den übrigen Wissens- und Kunstgebieten ist vieles oder gar alles gemeinsam, soweit es um die Erörterung theoretischer Grundsätze geht. Die Ausführung der Werke aber, die mit mit besonderem handwerklichen Gescchick oder in besonderen Verfahrensweisen zu vollendeter Feinheit gebracht werden, ist Sache derer, die auf einem speziellen Gebiete der Kunst zur Ausführung ausgebildet sind. Also dürfte derjenige mehr als genug erreicht haben, der von den einzelnen Wissensfächern und Künsten Teilgebiete und ihre Methoden einigermaßen kennt, und zwar diejenigen, die für die Baukunst nötig sind. Er braucht nur die Befähigung zu haben, über ihre Gegenstände und Kunsterzeugnisse ein Urteil abgeben und sie zu prüfen.

17. Die aber, denen die Natur soviel Talent, Scharfsinn und Gedächtnis verliehen hat, daß sie Geometrie, Sternkunde, Musik und die übrigen Wissenschaften voll und ganz beherrschen, wachsen über den Beruf des Architekten hinaus und werden Mathematiker. Daher können sie sich leicht mit Fachleuten in diesen Wissenschaften in Streitgespräche einlassen, weil sie mit Waffen der Wissenschaften ín besonderem Maße ausgerüstet sind. Solche Leute aber findet man selten: so z. B. vor Zeiten Aristarchos aus Samos, Philoizos und Archytas aus Tarent, Apollonios aus Pergae, Eratosthenes aus Kyrene, Archimedes und Skopinas aus Syrakus; sie hinterließen der Nachwelt vielerlei mechanische Werke und Meßgeräte, die sie aufgrund der Naturgesetze erfanden und entwickelten.

18. Da es nun die Schöpferkraft der Natur derartige Begabungen nicht unterschiedlos ganzen Völkern, sondern nur einzelnen, wenigen Menschen zugesteht, andererseits der Architekt dennoch von Berufs wegen mit allen Wissensgebieten einigermaßen vertraut sein muß, wobei wiederum seine begrenzte Fassungskraft angesichts der Fülle des Stoffes nicht die höchstmöglichen, sondern nur mittelmäßige enzyklopädische Kenntnisse gestattet, so bitte ich Dich, Caesar, und die Leser dieser Bücher auch insoweit um Nachsicht, als irgendetwas in meinen Darlegungen möglicherweise zu wenig nach den Regeln auch der Sprachkunst vorgetragen ist. Denn nicht als bedeutender Philosoph, nicht als beredter Redner und nicht als Schriftsteller, der in den besten Methoden seiner Kunst geübt ist, sondern nur als ein Architekt, der mit diesen Wissenschaften ein wenig vertraut ist, habe ich mich daran gemacht, dies zu schreiben. Hinsichtlich dessen aber, was die Baukunst praktisch vermag, und hinsichtlich der theoretischen Grundsätze, die in ihr gelten, hoffe ich und verspreche sogar, in diesen Büchern, nicht nur allen, die sich mit Bauen beschäftigen, sondern auch allen Gebildeten dies mit größter Sachkunde vermitteln zu können.

II. Die ästhetischen Grundbegriffe der Baukunst

1. Die Baukunst besteht aus 'Ordinatio', die griechisch 'Taxis' genannt wird, 'Dispositio', die die Griechen 'Diathesis' nennen, 'Eurythmia', 'Symmetria', 'Decor' und 'Distributio', letztere griechisch auch 'Oikonomia' genannt.

2. 'Ordinatio' ist die nach Maßeinheiten berechnete, ästhetisch angemessene Bestimmung der Größenverhältnisse der Glieder eines Bauwerks im einzelnen und die Herausarbeitung der proportionalen Verhältnisse im ganzen, bis Symmetrie erreicht ist. Die Symmetrie ergibt sich also aus dem Verhältnis von Größen zueinander, welches lateinisch 'Quantitas', griechisch 'Posotes' heißt. 'Quantitas' bedeutet die Ableitung einer individuellen Maßeinheit aus dem Bauwerk selbst und die Ausführung des Gesamtbaues nach den für die einzelnen Bauglieder festgelegten Maßeinheiten.

'Dispositio' ist die passende Einrichtung und schöne Ausführung des Baues mit charakteristischen Eigenschaften ['Qualitas']. Die Darstellungsformen der 'Dispositio', die die Griechen 'Ideen' nennen, sind: 'Ichnographia', 'Orthographia', 'Scaenographia'. 'Ichnographia' ist der unter Verwendung von Lineal und Zirkel in verkleinertem Maßstab ausgeführte Grundriß, aus dem später die Umrisse der Gebäudeteile auf dem Baugelände genommen werden. 'Orthographia' aber ist das aufrechte Bild der Vorderansicht und eine den Maßstäben des zukünftigen Bauwerks entsprechende gezeichnete Darstellung in verkleinertem Maßstab. 'Scaenographia' ferner ist die plastische zeichnerische Wiedergabe der Fassade und der zurücktretenden Seiten und die perspektivische Beziehung sämtlicher Linien auf einen Kreismittelpunkt. Diese Darstellungsformen entspringen dem 'Nachdenken' und der 'Erfindung'. 'Nachdenken' ist die systematische, energische und sorgfältige Verwirlichung eines Vorhabens, das der Mühe wert ist. 'Erfindung' [lat. 'inventio' = 'Ingenieurskunst'] ist die Lösung schwieriger Probleme und die mit experimentierender Geisteskraft gefundene Entdeckung neuer Verfahren. Dies sind die Begriffsbestimmungen der 'Dispositio'.

3. 'Eurythmia' ist die zu ebenmäßigem Aussehen und zweckentsprechender Gestaltung führende Komposition der einzelnen Glieder. Sie wird erzielt, wenn die Glieder des Bauwerks, was das Verhältnis von Höhe zur Breite und von Breite zur Länge betrifft, proportioniert sind und wenn die Teile auch untereinander in einem Verhältnis der Abgestimmtheit [= 'Symmetria'] stehen.

4. 'Symmetria' ist dabei die dem Charakter des Gesamtwerks entsprechende, stimmige Zusammenfügung seiner Elemente und die auf der messenden Berechnung eines bestimmten Elements [lat. 'modulus'] beruhende proportional entsprechende Bestimmung der Größe aller

einzelnen Elemente und des Ganzen. Wie beim menschlichen Körper Ellenbogen, Fuß, Hand, Finger und die übrigen Körperteile zueinander stimmig ['symmetrisch'] angeordnet sind und den Charakter der Eurythmie haben, so ist es auch bei der Ausführung von Bauwerken. Vornehmlich bei sakralen Bauwerken wird entweder aus den Säulendicken oder dem Triglyphon oder auch dem Embater, bei der Balliste aus dem Bohrloch, das die Griechen 'Peritreton' nennen, bei den Schiffen aus dem Zwischenraum zwischen zwei Ruderzapfen, den die Griechen 'Dipechyaia' nennen, und ebenso bei den übrigen Bauwerken aus einzelnen Gliedern die Berechnung der Symmetrien gewonnen.

5. 'Decor' ist die fehlerfreie äußere Gestalt eines Bauwerks, das aus normgerechten Teilen mit Geschmack geformt ist. 'Decor' wird durch Befolgung festgesetzter Normen, die die Griechen 'Thematismos' nennen, oder durch Befolgung irgendwelcher Gewohnheiten oder durch angemssene Beachtung natürlicher Gegebenheiten erreicht: durch Beachtung festgelegter Normen, wenn etwa dem Jupiter Fulgor, dem Himmel, der Sonne und dem Monde Gebäude unter freiem Himmel ohne Dach über der Cella errichtet werden. Denn dieser Götter Erscheinen und Wirken sehen wir nur gegenwärtig in dem offenen und lichtdurchfluteten Weltraum. Der Minerva, dem Mars und dem Herkules werden dorische Tempel errichtet; denn es ist angemessen, daß diesen Göttern wegen ihres mannhaften Wesens Tempel ohne schönes Beiwerk gebaut werden. Für Venus, Flora, Proserpina und die Quellnymphen sind Tempel in korinthischem Stil passend, weil diesen Göttern wegen ihres zarten Wesens Tempel, die etwas schlank, mit Blumen, Blättern und Schnecken [Voluten] verziert sind, in besonderem Maße angemessen erscheinen. Wenn wiederum für Juno, Diana und Bacchus und die übrigen Götter, die untereinander ähnlichen Wesens sind, Tempel in ionischem Stil errichtet werden, wird damit ihre Mittelstellung berücksichtigt; denn der Charakter dieser Tempel hält sich von der Herbheit des dorischen Stils einerseits und der Zierlichkeit des korinthischen Stils andererseits gleichermaßen fern.

6. Nach der Gewohnheit aber richtet sich der 'Decor', wenn bei Gebäuden, die innen prächtig ausgeführt sind, dazu passende vornehme Vorhallen gebaut werden. Wenn nämlich das Innere geschmackvoll ausgeführt ist, die Zugänge aber niedrig und unansehnlich wirken, dann fehlt ihnen, was man üblicherweise für angemessen hält (decor). Ebenso, wenn dorischem Gebälk am Gesims Zähnchen eingemeißelt werden oder wenn an Säulen mit Polsterkapitellen und ionischem Gebälk Triglyphen ausgearbeitet werden, dann liegt wegen der Vermischung eines Stils mit einen anderen ein störender Stilbruch vor, der der üblich gewordenen Stilordnung widerspricht

7. 'Decor' ergibt sich aus der Beachtung natürlicher Gegebenheiten; so etwa, wenn ganz allgemein für den Bau von Tempeln unzweifelhaft gesunde Gegenden und solche Wasserquellen ausgesucht werden, die für die Anlage von Heiligtümern geeignet sind. Besonders gilt das für Tempelanlagen des Aeskulap, der Salus und anderer Götter, durch deren Heilkünste Kranke geheilt zu werden pflegen. Denn wenn Kranke von einem ungesunden an einen gesunden Ort überführt werden und ihnen dort außerdem die Anwendung von Wasser aus Heilquellen ermöglicht wird, so genesen sie einmal schneller. Man erreicht so ferner, daß die natürliche Beschaffenheit des Ortes auch den Glauben an die Gottheit und ihre heilende Macht bestärkt. Ebenso liegt 'Decor' aufgrund natürlicher Gegebenheiten vor, wenn für Schlafzimmer und Bücherzimmer vom Osten her Licht gewonnen wird, für Badezimmer und Wintergemächer von der Winterabendseite [d. h. Südsüdwesten], für Bildergalerien und Räume, die gleichmäßiges Licht gebrauchen, vom Norden; denn aus dieser Richtung wirkt der Lauf der Sonne weder erhellend noch verdunkelnd wird, sondern die Lichtverhältnisse bleiben während des ganzen Tages gleichmäßig und unveränderlich.

8. 'Distributio' ist die wirtschaftlich angemessene Disposition über die verfügbaren Materialien und das Baugelände und eine bedachtsam auf Einsparungen ausgerichtete, zweckmäßige Gestaltung der Baukosten. Sie läßt sich in einer ersten Stufe dadurch erreichen, daß der Architekt keine Baumaterialien anfordert, die nicht in der Nähe gefunden werden oder nur teuer beschafft werden können. Nicht überall nämlich gibt es Grubensand oder Bruchsteine, Tannenholz, Fichtenholz oder Marmor, sondern das eine steht hier an, das andere dort, und ihr Transport ist schwierig und kostspielig. Wo es aber keinen Grubensand gibt, muß man Flußsand oder ausgewaschenen Meersand verwenden. Auch dem Mangel an Tannen- oder Fichtenholz wird man dadurch aus dem Wege gehen, daß man Zypressen-, Pappel-, Ulmen- oder Pinienholz verwendet. Auch die übrigen Schwierigkeiten müssen in ähnlicher Weise mithilfe von Ersatzstoffen gelöst werden.

9. Eine zweite Stufe der 'Distributio' ist es, wenn die Errichtung von Gebäuden genau auf den Bedarf und die Vermögensverhältnisse normaler oder ärmerer Vermögensinhaber oder solcher mit dem sozialen Rang etwa eines Redners ausgerichtet wird. Auch Gewerbegebäude in der Stadt müssen anders eingerichtet werden, als die, in die die Erzeugnisse aus ländlichen Besitzungen fließen. Die für Geldverleiher müssen anders aussehen als die für reiche und luxusliebende Leute mit feinem Geschmack. Für die Bedürfnisse einflußreicher Persönlichkeiten, von deren Überlegungen und Entscheidungen die Politik abhängt, wird man wiederum anders bauen. Im ganzen muß die Einrichtung der Gebäude immer den Bewohnern angemessen ausgeführt werden.

III. Die Teilgebiete der Baukunst

1. Die Baukunst selbst hat drei Teilgebiete: die Ausführung von Bauwerken, der Meßgerätebau und der Maschinenbau. Die Ausführung von Bauten hat zwei Unterabteilungen: die eine besteht in dem Bau von Stadtmauern und öffentlichen Gebäuden an öffentlichen Plätzen, die andere in der Ausführung von Privatgebäuden. Die öffentlichen Bauten teilen sich in drei Gruppen, von denen die eine der Verteidigung, die zweite der Gottesverehrung, die dritte dem allgemeinen Nutzen dient. Der Verteidigung dient die richtige Anlage von Stadtmauern, Türmen und Toren, ausgedacht, um dauernd feindliche Angriffe ahzuwehren, der Gottesverehrung die Errichtung von Heiligtümern und heiligen Gebäuden der unsterblichen Götter, dem allgemeinen Nutzen die Einrichtung öffentlicher Anlagen zur allgemeinen Benutzung wie Häfen, Marktplätze, Säulenhalien, Badeanlagen, Theater, Wandelgänge und anderes, was zu denselben Zwecken an öffentlichen Plätzen angelegt wird.

2. Diese Anlagen müssen aber so gebaut werden, daß auf Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Anmut Rücksicht genommen wird. Auf Festigkeit wird ausreichend Rücksicht genommen, wenn die Einsenkung der Fundamente bis zum festen Untergrund reicht und die Baustoffe, welcher Art sie auch sind, sorgfältig ohne Knauserei ausgesucht werden; auf Zweckmäßigkeit, wenn die Anordnung der Räume fehlerfrei ist und ohne Behinderung für die Benutzung und die Lage eines jeden Raumes nach seiner Art den Himmelsrichtungen angepaßt und zweckmäßig ist; auf Anmut aber, wenn das Bauwerk ein angenehmes und gefälliges Aussehen hat und die Symmetrie der Glieder die richtigen Berechnungen der Symmetrien hat.

Quelle: http://agiw.fak1.tu-berlin.de/Auditorium/BeGriRoe/SO10/Vitruv.htm

Bearbeitung für das Internet: Christian Gizewski (EP: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!